"Schlimmes Trauma"

Warum sich die Polen gegenüber den Deutschen und deren dunkler Vergangenheit versöhnlicher zeigen als die immer noch misstrauischen Tschechen

Das polnische Fernsehen war angereist, ein Flötenquartett musizierte, und Staatspräsident Aleksander Kwasniewski wünschte gutes Gelingen - reichlich Aufwand für einen kommunalpolitischen Kongress, wie er vergangenen Oktober in Elblag, dem früher ostpreußischen Elbing, stattfand. Drei Tage lang berieten dort Spitzenvertreter von Städten und Gemeinden aus dem Oder-Neiße-Raum über regionale Themen und die EU-Osterweiterung. Das Bemerkenswerteste daran: Deutsche Vertriebene von der Landsmannschaft Ostpreußen hatten die Tagung organisiert.

Der Kongress sei einer der "glaubwürdigsten und authentischsten Beweise für die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen", ließ Kwasniewski in seinem Grußwort ausrichten - und lobte den neuen Geist guter Nachbarschaft: "Durch Ihre Aktivitäten zeigen Sie, wie man auf Grundlage des gemeinsamen Erbes eine konstruktive Zusammenarbeit gestalten kann."

Sechs Jahrzehnte nachdem Nazi-Deutschland Polen mit Terror und Völkermord überzogen hat und Millionen Deutsche durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat verloren haben, dominiert allenthalben der Drang nach Verständigung. Inzwischen nennt der ehemalige polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, der unter den Nazis in Auschwitz litt, sogar den früheren Vertriebenen-Funktionär und Hardliner Herbert Hupka einen "ehrlichen und anständigen älteren Herrn".

Hupka ("Schlesien bleibt unser") trägt längst die Ehrenmedaille seiner Heimatstadt Ratibor und lobt den Dialog, "von dem man sich wünschte, dass er auch zwischen Deutschen und Tschechen zu Stande käme".

Ein tatsächlich wichtiges Anliegen. Denn das Verhältnis zwischen Prag und Berlin steht arg unter Spannung.

Mal schrecken Vertriebenenverbände den östlichen Nachbarn mit der Drohung auf, dessen geplanten EU-Beitritt verhindern zu wollen, dann wieder geißeln tschechische Politiker angebliche Bestrebungen in Deutschland, die Nachkriegsordnung in Frage zu stellen.

So schwadronierte jüngst der ODS-Abgeordnete Miloslav Bednár im Namen seiner Partei (der auch Parlamentspräsident Václav Klaus angehört) von einer "europäischen Achse des Bösen" zwischen München, Wien und Budapest.

Hintergrund des verbalen Amoklaufs war, dass Politiker in den genannten Metropolen gefordert hatten, die Benes-Dekrete aufzuheben. Durch die Verfügungen des tschechischen Nachkriegspräsidenten Edvard Benes waren Deutsche und Ungarn enteignet und für rechtlos erklärt worden.

Mitte Februar erst war der Streit um die Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeutschen eskaliert, nachdem Ministerpräsident Milos Zeman den Abschub immerhin "milder als die Todesstrafe" bezeichnet hatte. Bundesaußenminister Joschka Fischer eilte daraufhin nach Prag, um "Irritationen" auszuräumen. Vergebens: Kanzler Gerhard Schröder sagte seinen lange geplanten Besuch an der Moldau dennoch ab - 57 Jahre nach Kriegsende.

Woran liegt es, dass sich die Tschechen mit den Deutschen so viel schwerer tun als die Polen, die ja unter der Nazi-Diktatur noch erheblich mehr zu leiden hatten? Immerhin sehen sich beide Staaten bis heute gleichermaßen den Forderungen von Vertriebenenverbänden nach Restitution und Entschädigung ausgesetzt.

Mag sein, dass es den Polen leichter wurde, versöhnliche Bande zum ehemaligen Aggressor zu knüpfen, da viele von ihnen selbst aus dem Ostteil ihres Landes verjagt worden waren, der 1945 an die Sowjetunion fiel. Vertriebene scheinen Vertriebene besser zu verstehen.

Vielleicht quält die Tschechen dagegen immer noch eine Art kollektives Unbehagen darüber, dass sie - anders als die Polen - nicht so stolz auf ihren Widerstand gegen die deutschen Invasoren zurückblicken können. Und weil sie nach dem Krieg ihre eigenen (früheren) Landsleute rauswarfen.

Denn die Sudetendeutschen waren mit dem Ende des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn im Friedensvertrag von St. Germain 1919 eher gegen ihren Willen der neu entstehenden Tschechoslowakei zugeschlagen worden und hatten in der folgenden Zeit manche Diskriminierung auszuhalten. Die Schikanen uferten aber nicht derart aus, dass sie die deutsche Minderheit nahezu zwangsläufig in die Arme der Nazis getrieben hätten, wie es in Vertriebenenkreisen bis heute gern behauptet wird. Schließlich flohen 1933 Zehntausende deutscher Emigranten in die Tschechoslowakei - etwa der gesamte SPD-Vorstand und Schriftsteller wie Bert Brecht, Stefan Heym oder Heinrich Mann. "Prag empfing uns als Verwandte", bemerkte Heinrich Mann dankbar.

Damit war es nach dem Münchner Abkommen 1938 vorbei, als das von Deutschen besiedelte Staatsgebiet - mit tatkräftiger Unterstützung der großen Mehrheit der Sudetendeutschen - "heim ins Reich" kam und die Nazis schließlich das übrige "Protektorat Böhmen und Mähren" in Besitz nahmen.

"Am Ende der dreißiger Jahre liegt der Schlüssel unserer nationalen Psychologie", sagt Tschechiens Senatspräsident Petr Pithart. Das Münchner Abkommen sei zwar ein schwerer Schlag gewesen, "noch härter aber war, dass wir nicht gegen die Nazis kämpfen durften. Diese Erniedrigung ist ein Trauma, schlimmer noch als Nazi-Terror und Protektorat", so Pithart. "Die Polen haben gekämpft, wir haben uns das nehmen lassen."

Während Polen in einem erklärten Krieg stand und sich gegen die Invasoren wehrte, war die "Rest-Tschechei" kampflos besetztes Land, dessen Industrieanlagen im Krieg als willkommene Ressourcen der deutschen Militärindustrie dienten - unter tätiger Mitarbeit von Tschechen. Den Arbeitern der Škoda-Werke sprach Hitler persönlich "Dank und Anerkennung" aus, und Protektorats-"Präsident" Emil Hácha entbot noch am 20. April 1945 dem Führer Geburtstagsgrüße

Teil des Traumas wurde so auch die Kollaboration - vielleicht ein weiterer Grund, warum sich in Böhmen und Mähren der Hass auf die Deutschen in Mord und wilden Vertreibungen schlimmer als andernorts entlud und historische Wahrheiten verdrängt wurden.

So denken viele jüngere Tschechen bis heute, die Deutschen seien mit Hitler gekommen und hätten mit ihm eben auch wieder gehen müssen. Und andere glauben, die Abschiebung habe erst nach der Konferenz von Potsdam begonnen.

Da hatte sich die Provisorische Nationalversammlung in Prag bereits 143 Dekrete ihres Präsidenten Benes zu Eigen gemacht, die er zum Teil im Londoner Exil formulierte, darunter auch jene die Deutschen diskriminierenden Verfügungen.

Dazu kam 1946 noch ein Amnestiegesetz, das rückwirkend für sämtliche Straftaten galt, die zwischen dem 30. September 1938 und dem 28. Oktober 1945 begangen wurden und "deren Zweck es war, einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit" zu leisten.

Bis heute scheitern nach diesem Persilschein alle Versuche, unzweifelhafte Verbrechen aus jener Zeit juristisch zu ahnden.

Ein Prozess, wie er derzeit im polnischen Opole gegen den grausamen Kommandanten des Nachkriegslagers Lambinowice (Lamsdorf) geführt wird, wäre in Tschechien jedenfalls undenkbar. In Lambinowice waren zwischen Sommer 1945 und 1946 mindestens tausend Deutsche, darunter die Mehrzahl Frauen und Kinder, zu Tode gequält und ermordet worden.

Das Gerichtsverfahren steht nun ebenso wie das offizielle Eingeständnis, vielen Vertriebenen Unrecht getan zu haben, am Ende einer langen Kette polnischer Versöhnungsbemühungen.

Schon 1965 schrieben die Bischöfe in einem spektakulären Brief an ihre deutschen Amtsbrüder: "Wir vergeben und bitten um Vergebung." Das hörten die Machthaber in Warschau zwar nicht gern, aber das behutsame Wort begann in der stark katholisch geprägten Bevölkerung zu wirken.

Einer tatsächlichen Annäherung stand indes lange die Grenzfrage im Weg. Paradoxerweise sollte dieses gravierendste Hindernis des deutsch-polnischen Ausgleichs später zur großen Chance werden - als es dann weggeräumt war.

Denn bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Sommer 1990 ging es nicht um ehemalige Siedlungsgebiete oder die Ansprüche der Vertriebenen, sondern um die deutsche Einheit: Ohne die definitive Festschreibung der Ostgrenze zu Polen hätte es die nicht gegeben, und seitdem können immer mal wieder auftretende Störmanöver kaum noch schaden.

"Mit der Angst vor den Deutschen zu spielen bringt nichts mehr", sagt Warschau-Botschafter Frank Elbe, seit Jahrzehnten ein guter Kenner der deutsch-polnischen Beziehungen. "Es gibt hier in der Gesellschaft einen Grundkonsens, dass dieses schmerzliche Kapitel beendet ist", so Elbe, "die Leute sind das Thema einfach auch leid."

Vielen im Nachbarland Tschechien geht es gewiss ebenso - aber dort wird die schlummernde Furcht vor den "Nemci" besonders im Wahlkampf gern geweckt.

Dabei gab es doch Hoffnung, nachdem Präsident Václav Havel gleich nach der Wende den Deutschen die Hand zur Versöhnung gereicht hatte, und erst recht, als Bundeskanzler Helmut Kohl und sein tschechischer Parteifreund, Ministerpräsident Václav Klaus, 1997 die nach zähen Verhandlungen formulierte "Deutsch-tschechische Erklärung" unterschrieben.

 

"Manche haben immer noch angst, dass sie ihre Häuser den einstigen Eigentümern zurückgeben müssen."

Fünf Jahre nach diesem Vertragsabschluss reichen schon kleinere Anlässe, um wieder die alte große Verunsicherung zu mobilisieren. Wie bestellt tauchten so vor wenigen Tagen im Grenzgebiet um Karlsbad Aufkleber mit der Inschrift auf: "Das Sudetenland war und wird wieder deutsch" - eine schlichte Provokation.

Vor allem in den ehemaligen Siedlungsgebieten der Deutschen verfehlen derartige Parolen ihr Ziel nicht. "Manche Leute haben hier immer noch Angst, dass sie ihre Häuser den einstigen Eigentümern zurückgeben müssen", sagt Markéta Ebrlová aus der westböhmischen Stadt Bochov. Dort war einst Karin Rudolf zu Hause, heute Gattin des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber.

Der Kanzlerkandidat der Union präsentiert sich gern als Schutzherr der vornehmlich in Bayern neu beheimateten Sudetendeutschen. Und wenn die sich alljährlich zu Pfingsten bei Olmützer Quargel, Egerer Paprikabeißer und Kleckselkuchen in nostalgischer Wehmut ergehen, wundert sich der Rest der Republik: Was es nicht alles noch gibt.

In Tschechien registriert die Öffentlichkeit hingegen jede Regung der "Landsmanschaft" mit großer Aufmerksamkeit. Die hatte schließlich lange Zeit erheblichen Einfluss auf die deutsche Politik. Noch 1995 machte der damalige Außenminister Klaus Kinkel eine Entschädigung der tschechischen Nazi-Opfer von Leistungen Prags für die Vertriebenen abhängig.

"Da hat sich eine eigenartige Gegenseitigkeit entwickelt", sagt Hans Lemberg, deutscher Vorsitzender der gemeinsamen Historikerkommission. "Jahrzehntelang waren die meisten Deutschen kaum an der Tschechoslowakei interessiert, und nur die Sudetendeutschen brachten das Land immer wieder - und das nicht immer positiv - ins Gespräch."

Gleichzeitig speiste sich das offizielle BRD-Bild der sozialistischen -SSR vor allem aus der "Sudetendeutschen Zeitung". Dieser Mechanismus, stellt Lemberg fest, funktioniere bisweilen selbst heute noch.

Da braucht dann nur das Schlüsselwort "Benes-Dekret" zu fallen, und diesseits wie jenseits der böhmischen Wälder treten die bekannten Nebelwerfer auf den Plan.

"Die diskriminierenden Dekrete gehören sofort annulliert!", ruft die Sudetendeutsche Landsmannschaft und wähnt theatralisch die gesamte Wertegemeinschaft der EU auf der Kippe. Die Tschechen dagegen verhalten sich mehrheitlich umgekehrt dramatisch. Sie fürchten um die Rechtsgrundlage ihrer Republik und sehen gar die europäische Nachkriegsordnung zerbröseln.

Dabei ließe sich der elende Streit ebenso lösen, wie es Deutschland - in Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches - mit dem Münchner Abkommen getan hat: Dieser Vertrag wurde 1973 einvernehmlich mit Prag für "nichtig" erklärt; allerdings nicht rückwirkend von Anbeginn, damit Rechtsakte wie Eheschließungen, Adoptionen oder Einbürgerungen gültig blieben.

Nach diesem Verfahren würden auch die Benes-Dekrete Bestandteil der tschechischen Ordnung bleiben, wären aber keine lebenden Rechtsquellen mehr - und die nervenden Diskussionen hätten ein Ende.

HANS-ULRICH STOLDT