"Lauft, ihr Schweine!"

SPIEGEL-Serie über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten

QUELLE: Der SPIEGEL Vertreibung (II): "Lauft, ihr Schweine!" - DER SPIEGEL - SPIEGEL ONLINE

Nach dem Einmarsch der Roten Armee in das Deutsche Reich beginnen die "wilden Vertreibungen". Hunderttausende werden im Sommer 1945 aus den Ostprovinzen, der Tschechoslowakei und Polen hinausgeworfen. Spontane Reaktion der von den Nazis Unterdrückten oder kühl kalkulierte Interessenpolitik?


Das Ende von allem war ganz genau bedacht. Die Schlüssel: "Sie sind von allen Türen abzuziehen" und "mit Schnur zusammenzubinden". Sodann sind sie "mit der genauen Anschrift auf starkem Papier zu versehen, das mittels Schnur zu befestigen ist". Und noch was: "Vor dem Verlassen der Wohnzimmer und der Gebäude muss jede Eingangstür verschlossen und mit einem Streifen Papier so verklebt werden, dass dieser beide Türflügel verbindet und das Schlüsselloch überdeckt. Böhmisch Leipa, 14. Juni 1945, der Militärortskommandant."

Das Leben, von Amts wegen beschlossen. Die Schlüssel gefädelt, die Türen zum eigenen Haus gehorsam verklebt, ein Koffer rechts, ein Koffer links, ohne Ziel, ohne Obdach morgens um fünf Uhr auf der Landstraße, weil der Militärortskommandant eines Städtchens irgendwo in den Sudeten das so angeordnet hat.

"Da habe ich euch, ihr Hurensöhne, vier Jahre habt ihr mich im KZ gequält, jetzt seid ihr an der Reihe."

Die Vertreibung: Kann sich jemand das vorstellen?

Die Vertreibung - nach Krieg und Flucht die dritte Katastrophe im Leben der Deutschen im Osten. Mehr als 14 Millionen Menschen werden aus der Tschechoslowakei, aus Polen, Jugoslawien, Ungarn und Ostdeutschland hinausgeworfen.

Vor den Bomben waren sie in die Keller gekrochen, vor den heranrückenden Besatzern konnten sie weglaufen und dabei doch ihr eigenes Leben, wenn auch elendig, in die eigene Hand nehmen.

Was für ein Gefühl aber muss das gewesen sein: mit jedem Lidschlag vom Willen anderer Menschen abhängig zu sein, die bei ihren blindwütigen Aktionen entweder gar nichts empfinden - oder nackten Hass.

Es begann mit nacktem Hass. Beim Prager Aufstand im Mai 1945 wurde den Deutschen im Osten blutig gezeigt, was die bis gestern von Hitlers Hilfsdiktatoren geknechteten Tschechen und Polen nun mit dem Volk der Unterdrücker vorhatten.

4. Mai, Nähe Wenzelsplatz, der Krieg ist noch nicht einmal ganz zu Ende: Eine kleine Gruppe Prager hat sich vor einem Friseursalon versammelt und klatscht johlend Beifall. Der Friseur überpinselt das deutsche Firmenschild an seinem Laden. Ein Polizist hält ihm dabei die Leiter.

Im "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" waren deutsche Schilder Pflicht. Doch nun ist die Macht der Deutschen gebrochen. Seit Monaten haben sich im Untergrund Widerstandsgruppen formiert, Nationalisten und Kommunisten Hand in Hand arbeitend; die schlagen nun los.

Am Morgen des folgenden Tages tobt an den Moldaubrücken der Aufstand. Tschechen, mit Revolvern, Messern und Beilen bewaffnet, ziehen durch die Straßen. SS-Mannschaften schießen auf die Rebellen.

Den Aufständischen gelingt es, den Sender Prag II zu kapern, dort verkünden sie die Parole, die in den nächsten Tagen in allen Straßen der Goldenen Stadt zu hören sein wird: "Tod den Deutschen".

Eine Menschenjagd beginnt. "Alle Bürger, die Deutschen Schutz gewähren, werden zur Verantwortung gezogen", heißt es im Radio. An den Bäumen hängen die ersten SS-Leute. Als die Russen anrücken, den Aufständischen mit Panzern zu helfen, kapitulieren die bisherigen Besatzer. Militärs und wenige Zivilisten können sich im letzten Augenblick Richtung Westen durchschlagen.

Doch die meisten der rund 200 000 Deutschen in Prag sind hilflos der Wut der revolutionären Miliz ausgeliefert. Von den sowjetischen Soldaten können sie keinen Schutz erwarten; die plündern und vergewaltigen. Die wilden Garden filzen Häuser und Wohnungen und schleifen ihre Opfer - oft genug mit dem Kopf nach unten - in Gefängnisse und Keller.

Ein deutsch-tschechischer Banker, gestern noch in leitender Position, wird verhaftet und landet im alten Palais Auersperg. Seine Erinnerungen an die furchtbaren Wochen, die für ihn folgen, gibt er später, wie viele andere, für die Dokumentation des Bonner Vertriebenenministeriums zu Protokoll:

"Eine versoffene Stimme brüllte fast ohne Unterbrechung. Dazwischen knallte es, und ich hörte menschliches Stöhnen und Schmerzensschreie. Auf alle Fälle befühlte ich meine Giftampulle in der Tasche, die mir unterwegs der Apotheker zugesteckt hatte."

Im Hof des Hauses, in das sie ihn eingesperrt haben, ein schwer beschreibbarer Anblick: "Ich sah einige alte Herren wie Gamsböcke springen, Holzscheite sammeln und wieder hüpfend wegtragen." Das sei "die KZ-Schule", erklärt ein Mithäftling - eine Vermutung, die sich bestätigt: "Da habe ich euch, ihr Hurensöhne, vier Jahre habt ihr mich im KZ gequält, jetzt seid ihr an der Reihe", schreit ein Aufseher wutentbrannt.

Den internierten Deutschen stand Schreckliches bevor. Im Stechschritt mussten sie unter Beschimpfungen der Passanten durch die Straßen zu Arbeitseinsätzen ausrücken. Den Frauen wurden die Haare geschoren, und sie hatten Steine zu schleppen. Kranke oder Verletzte wurden auf offener Straße erschossen.

Im Strahov-Stadion am Stadtrand harrten 10 000 Gefangene ohne Essen und Trinken aus. Alte und Kinder starben zu Hunderten an der Ruhr. Vor den Augen der Häftlinge prügelten Milizionäre tatsächliche oder vermeintliche NS-Funktionäre zu Tode.

In Ungewissheit über ihr Schicksal verharrten viele in dem einstigen Konzentrationslager Theresienstadt, eingesperrt von den Tschechen. Die Überlebenden der Quälereien gelangten schließlich Wochen später in Viehwagen in den Westen.

"Ethnische Säuberungen" heißt so etwas heute. "Wilde Vertreibungen" wurde die Jagd auf die Deutschen zwischen Mai und Juli 1945 genannt, als die Wut noch ungebremst war. Der Austrieb der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa sollte sich Jahre hinziehen - doch niemals wieder wurde es so schlimm, wie in jenen strahlend schönen Sommerwochen nach dem Sieg der Alliierten.

Und erst jetzt, wo sich Weltöffentlichkeit und Weltgerichte um die Aufklärung solcher Säuberungen - wie zuletzt in Serbien - bemühen, weiß man mehr über Motive und Abläufe. Die blutigen Schergen derartiger Aktionen sind bei aller persönlichen Wut meist nur willige Werkzeuge eines kühl kalkulierenden Mastermind. Die Vertreibung war nicht einfach nur der Ausbruch des von den Nazis gesäten und den Besatzern vor Ort aufgestachelten Hasses. Hinter fast allem steckte zugleich auch ein seit Jahren vorbereiteter und diplomatisch sorgsam abgesicherter Coup nationaler Interessenpolitik.

Der Wunsch, mit Hilfe ethnischer Säuberungen homogene Nationalstaaten zu bilden, war unter Hitlers Verbündeten und Feinden gleichermaßen verbreitet. Bulgaren und Rumänen, Kroaten und Serben, Slowaken und Ungarn - alle wollten ihre jeweiligen Minderheiten loswerden. Sollte das mit geordneten "Transfers", wie man die Vertreibung damals nannte, nicht möglich sein, blieb am Ende nur die Gewalt.

Die Londoner Exilregierungen Polens und der Tschechoslowakei planten so von Kriegsbeginn an, Millionen Deutsche zu verjagen. Der große Nachbar im Zentrum Europas sollte nie wieder deutsche Minderheiten als Brückenköpfe nutzen können, aus deren Existenz die Berliner Regierungen Gebietsansprüche ableiteten. So war es in den zwanziger und dreißiger Jahren gewesen, als sich die in Polen und der Tschechoslowakei lebenden Deutschen mit ihrer Lage nicht abfinden mochten - und die Regierungen in Warschau und Prag kaum etwas taten, um diese Bürger für sich zu gewinnen.

Und hatte nicht Hitlers Wehrmacht Polen 1939 in wenigen Wochen überrannt? Die polnische Exilregierung führte die Niederlage auch auf den Grenzverlauf zurück und forderte zur Arrondierung ihres Reiches Teile Schlesiens, Danzig und Ostpreußen - ohne Deutsche natürlich.

"Den Deutschen wird erbarmungslos alles zurückgezahlt werden, was sie in unserem Land angerichtet haben."

Und die Tschechen mochten mit ihren sudetendeutschen Landsleuten, Staatsbürger des Vielvölkerstaats -SR, ebenfalls nicht mehr zusammenleben. Jene - von der Weltwirtschaftskrise besonders betroffen - hatten mit großer Mehrheit die nationalistische Sudetendeutsche Partei selbst dann noch gewählt, als sich deren Vorsitzender Konrad Henlein willig dem "Führer" unterwarf.

Auf der Münchner Konferenz 1938 gaben der britische Premierminister Neville Chamberlain und sein französischer Kollege Édouard Daladier gegenüber Hitler schließlich nach; das geschlossen deutsch besiedelte Sudetengebiet wurde dem Reich zugeschlagen. Dass das Gros der dort ansässigen Bevölkerung deutscher Nationalität freiwillig die demokratische Republik gegen die Nazi-Diktatur eintauschte ("Führer, wir danken dir"), haben die Tschechen bis heute nicht verziehen.

Exil-Präsident Edvard Benes, ein Soziologieprofessor aus Böhmen, dachte zuerst an ein Abtreten einiger deutsch besiedelter Gebiete und wollte einen zivilisiert ablaufenden Bevölkerungsaustausch aus dem dann noch bei der Tschechoslowakei verbliebenen Territorium vornehmen. Doch je länger der deutsche Besatzungsterror dauerte, desto unrealistischer wurden solche Pläne.

Über die Stimmung seiner Landsleute notierte Josef Kalla, der tschechische Militärattaché in London: "Man sagt: Einen Teil bringen wir um, einen Teil vertreiben wir, viele fliehen aus Angst vor Rache, und den Rest werden wir durch die Umsiedlung der Deutschen bzw. Grenzkorrekturen los."

Kallas Vermerk stammt vom Januar 1940 - Hitlers größte Verbrechen standen zu diesem Zeitpunkt noch bevor. Zwischen 1939 und 1945 brachten die Nazis mehr als vier Millionen Polen um. Aus dem "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" wurden über 100 000 Menschen, vor allem Juden, in Konzentrationslager verschleppt. Die Ermordung der Einwohner von Lidice 1942 als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich, den Chef der Sicherheitspolizei, zählt zu den schrecklichen Verbrechen dieser Zeit.

So war es für den Nationalisten Benes leicht, die düsteren Erfahrungen seiner Landsleute mit den grausamen Nachbarn am Ende des Krieges als Treibstoff für einen Befreiungsschlag zu nutzen. "Den Deutschen wird erbarmungslos und vielfach alles das zurückgezahlt werden, was sie seit 1938 in unserem Land angerichtet haben", hatte Benes schon 1943 aus dem Exil verkündet.

Nun, da es so weit war, rief er seinen Landsleuten zu: "Werft die Deutschen aus ihren Wohnungen. Kein deutscher Bauer darf auch nur einen Quadratmeter Boden unter seinen Füßen behalten."

Im Ausweisungsbefehl des Militärortskommandanten von Böhmisch Leipa vom 14. Juni 1945 liest es sich dann so: "Die Einwohner deutscher Volkszugehörigkeit der Stadtregion Böhmisch Leipa, Alt-Leipa und Niemes, ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts, verlassen am 15. Juni um fünf Uhr früh ihre Wohnungen und marschieren durch die Kreuz- und Brauhausgasse auf den Sammelplatz beim Brauhaus." Dann ging es zur Grenze, "heim ins Reich".

Ethnische Säuberungen, so lautet eine Lehre aus dem 20. Jahrhundert, führen meist in jenen Gebieten zu besonders blutigen Exzessen, in denen verschiedene Nationen sich Dörfer und Städte teilen. Tödliche Nachbarschaft.

In Brünn etwa befanden die Arbeiter des Rüstungswerkes Zbrojovka Ende Mai, dass es nun genug sei mit den deutschen Mitbürgern. Der Vertreter der Belegschaft im örtlich regierenden Nationalausschuss verkündete: "Wir, die Arbeiter, nehmen die Abschiebung selbst in die Hand."

Wollten sie mit einer Bluttat den Vorwurf entkräften, allzu fleißig und freiwillig für Hitlers Wehrmacht Waffen montiert zu haben, wie Überlebende vermuten?

 

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Am 30. Mai 1945 mussten rund 26 000 deutschsprachige Bewohner der mährischen Stadt binnen weniger Stunden ihre Häuser verlassen und wurden in einem langen Elendszug unter brutalen Misshandlungen Richtung Österreich aus ihrer Heimat gezwungen. Auch hier waren es vor allem Alte, Frauen und Kinder, von denen mindestens 2000 auf dem 80 Kilometer langen Marsch an Entbehrungen und Krankheit starben oder von ihren Bewachern getötet wurden.

"Wir wurden mit Peitschenhieben wie eine Herde Vieh getrieben", erinnert sich Walter Saller, der wegen einer Kopfverletzung keine Zwangsarbeit leisten musste und sich deshalb in den Vertreibungszug einzureihen hatte. "Viele zogen ihr weniges Gepäck entkräftet an Schnüren über die Straße, bald zerbrachen die Koffer, und der Inhalt verstreute sich überall."

"Wir Kinder haben erst gedacht, es geht auf einen Ausflug", erinnert sich Maria Pekáºová, die als siebenjähriges Mädchen am Todesmarsch teilnahm. "Aber dann merkten wir schnell, dass etwas Schreckliches geschah."

Die Kleinen sahen, wie ihnen am Straßenrand hilflose, erschöpfte Greise die Hände entgegenstreckten; Schwangere wurden mit Gewehrkolben malträtiert, alte Frauen totgeschlagen. Die Kinder hörten nachts die Schreie vergewaltigter Mädchen.

Es herrscht um diese Zeit Pogromstimmung in Böhmen und Mähren. Wilde Gerüchte über deutsche Freischärler ("Werwölfe") laufen um, und Waffen sind schnell beschafft. Denn die einzige Ordnungsmacht - die Rote Armee - muss kein Tscheche fürchten.

Das Wasser im Feuerlöschteich färbt sich blutrot, johlende Männer ertränken wahllos, wen sie gerade zu greifen vermögen.

Deren Generalissimus Stalin war es gewohnt, in seiner Sowjetunion ganze Völker hin und her zu schieben. Einige Millionen Deutsche zu vertreiben, so sein Außenminister Wjatscheslaw Molotow, sei "eine Kleinigkeit, das ist leicht".

Aussig im Sudetenland, 31. Juli, 15.30 Uhr: Das Waffenlager Schönpriesen der tschechischen Armee, etwa zwei Kilometer elbabwärts, explodiert. Die Druckwelle schleudert Eisenbahnwaggons durch die Luft und lässt noch im Stadtzentrum Fensterscheiben bersten. 27 Menschen sterben: Tschechen und deutsche Zwangsarbeiter.

Nahezu gleichzeitig beginnt an mehreren Plätzen der Stadt eine Hatz auf Deutsche. Die lassen sich an ihrer weißen Armbinde, die sie immer zu tragen verpflichtet sind, gut erkennen.

Vor dem Bahnhof liegen zwei Dutzend Totgeschlagene. Das Wasser im Feuerlöschteich färbt sich blutrot, johlende Männer ertränken hier wahllos, wen sie gerade zu greifen vermögen. Auch auf der 20 Meter hohen Brücke von Aussig tobt der Mob. Menschen jeglichen Alters stürzen hinab in die Elbe. Wer nicht gleich stirbt, auf den wird geschossen.

Die Rechtfertigung für die Ausschreitungen schiebt am nächsten Tag die tschechische Regierung nach: Deutsche Werwölfe hätten das Munitionsdepot gesprengt. Doch Vladimir Kaiser, heute Stadtarchivar in Aussig und der wohl beste Kenner aller Quellen, widerspricht dieser Behauptung: Das Massaker sei eine abgekartete Sache gewesen. Inszeniert von den neuen Machthabern in Prag, die der Weltöffentlichkeit beweisen wollten, dass es sich mit den nach wie vor gefährlichen Deutschen nicht friedlich zusammenleben lasse.

In vielen Sudetengebieten mit geschlossen deutscher Besiedlung bleibt es zunächst noch ruhig - bis die selbst ernannten Revolutionären Garden auftauchen. Den Tschechen, die sich ihnen anschließen, winkt reiche Beute. Der Landbesitz der Deutschen soll an all jene verteilt werden, so haben es die neuen Machthaber versprochen, die "ihren Wert im nationalen Befreiungskampf bewiesen" haben.

Die Plakate, etwa in Komotau, haben große rote Buchstaben. Als der Facharbeiter Adalbert Ehm am Samstag, dem 9. Juni, um sechs Uhr auf die Straße geht, hängen sie schon weithin sichtbar an den Mauern. Sämtliche männlichen Einwohner von 13 bis 65 sollen sich auf einem alten Sportplatz melden, mitzubringen: eine Garnitur Leibwäsche und Verpflegung für drei Tage.

Was haben die mit ihm vor? In der gleißenden Morgensonne müssen alle Zusammengetriebenen die Oberkörper entblößen und die Arme emporstrecken. Milizionäre untersuchen sie auf SS-Tätowierungen. Der Mob reißt einem Dutzend der Männer auch noch die restlichen Kleider vom Leibe. Dann werden die Nackten so lange mit Knüppeln geschlagen, bis sie leblos liegen bleiben.

Tschechen türmen die toten Körper zu blutigen Fleischhaufen auf - Adalbert Ehm und die anderen Überlebenden müssen in Fünferreihen an den Opfern vorbeiparadieren, ehe sie anschließend unter Hieben davongejagt werden.

Die wenigsten, die nach Schlesien drängen, machen sich klar, was sie erwartet. Verbrannte Erde zerstörte Häuser.

"Lauft, ihr Schweine, ihr deutschen Schweine" - und die Männer kriechen Serpentinen rauf ins Erzgebirge. Immer im Trab und über Stunden hinweg mit den Gewehrkolben und Maschinenpistolen der Milizen im Rücken.

Abends ist endlich die Grenze erreicht - bei Deutschneudorf. Doch die Russen im benachbarten Sachsen wollen die Vertriebenen von Komotau nicht aufnehmen. Sie haben ihrerseits bereits genug Elend zu verwalten. In Fünferreihen sitzend, muss Ehm mit den andern die Nacht auf der Straße vor dem Schlagbaum verbringen. Den nächsten Tag geht der Marsch zurück - ins Arbeitslager.

Europa, berichtete damals das amerikanische Magazin "Time", war "aus dem schrecklichsten Krieg der Geschichte in den fürchterlichsten Frieden übergegangen".

Und niemand, bei dem die tschechischen Räumungskommandos nächtens an die Tür donnerten, konnte wissen, welche der drei ihm drohenden Qualen auf ihn zukommen würde: Fußmarsch bis zur Erschöpfung nach Irgendwo, Verschleppung zur Zwangsarbeit in ein böhmisches Bergwerk oder Einweisung in ein Lager zum späteren Abtransport in Kohlewaggons nach Westen.

Wie das Leben weiterging - manchmal schien es sich durch Los zu entscheiden. Ein Betriebsführer aus dem böhmischen Reichenberg berichtet für die Vertriebenen-Dokumentation, wie er sich am 19. Juli zusammen mit Hunderten anderer auf einem Sportplatz einzufinden hatte. Erst mussten er und seine Leidensgenossen im Freien kampieren, dann alle Papiere abgeben. "Danach erhielt jeder entweder einen roten, gelben oder weißen Zettel". Rot war Abschiebung - gelb und weiß hießen Lager.

Wer rausdurfte aus der -SR, hatte einen Hauptgewinn gezogen.

Fakten schaffen - das ist das Motto der Stunde, denn in der amerikanischen und britischen Öffentlichkeit gibt es Kritik am brutalen Austrieb der Deutschen. Und noch glauben alle an eine baldige Friedenskonferenz, auf der die neuen Grenzen gezogen werden. Benes macht deshalb Druck. Er ordnet in mehreren Dekreten an, die Deutschen grundsätzlich zu entrechten und zu enteignen. Nicht noch einmal sollen die Westmächte Gelegenheit bekommen - wie 1938 in München -, sich auf die Seite der Sudetendeutschen zu schlagen. Die sollen weg, so schnell es geht, um jeden Preis.

In Langenbruck im Kreis Reichenberg passiert es wie vielerorts. Am 16. Juni um zwei Uhr nachts kommt der Befehl ans Dorf, am nächsten Morgen die Häuser zu räumen. Ein Mann, der erst wenige Tage zuvor aus dem Lazarett entlassen worden und endlich wieder "zu Hause" ist, erschießt seine Kinder im Alter von drei und fünf Jahren, dann die Frau, dann die Schwiegermutter und bringt sich am Ende selbst um.

Die aus dem Dorf am Leben bleiben, ein Trüppchen von 2000 Leuten, werden in Kohlewagen verfrachtet und nach Schlesien zu den Polen geschickt. Dort irren sie zehn Tage lang hustend durch die Ödnis, um schließlich vom polnisch besetzten Terrain aus durch die Neiße nach Sachsen zu waten, das die Russen kontrollieren.

In diesen Tagen wird die Neiße, ein schmales, unscheinbares Flüsschen aus dem Isergebirge, zur historischen Wasserscheide.

Westlicherseits erstreckt sich das, was noch von Deutschland übrig ist, das verwüstete Sachsen, die Lausitz, unter sowjetischer Verwaltung. Im Osten regieren die von den Russen abhängigen Polen, im Süden die Tschechen. Den provisorisch arbeitenden Behörden und der ausgehungerten Bevölkerung werden die Überflüssigen von hüben und drüben jeweils vor die Tür gekippt - Hunderttausende irren herum, ohne Ziel, ohne Obdach.

"Du kannst nach links, du kannst nach rechts, oder du kannst ins Wasser": Die zynische Antwort eines Rotarmisten auf die ratlose Frage eines Vertriebenen am Neiße-Ufer ist mehrfach überliefert. Das war offenbar so ein Spruch, den sich die Besatzer zurechtgelegt hatten. Wehe den Besiegten!

Und die meisten wollten nicht nach rechts oder links, die wollten zurück in ihre Heimat. Der Krieg war zu Ende, und die Rote Armee stand an der Elbe. Statt im überfüllten Berlin oder im zerbombten Dresden auszuharren, machten sich viele auf den Weg nach Hause. Sie wussten ja nicht, dass sie gegen den Strom der Geschichte liefen. Schlesien und Pommern - das schienen doch zunächst nur Teile der großen sowjetischen Besatzungszone.

In Görlitz, heute zwischen Deutschland und Polen geteilte Grenzstadt, in der so wunderschöne Häuser stehen, dass sie ein halbes Jahrhundert später zum Kulturerbe der Menschheit erklärt werden sollen, lag damals eine der wichtigsten Brücken über die Neiße nach Schlesien. Und auf dieser Brücke brandete das Elend jetzt aus zwei Richtungen gegeneinander: Vertriebene aus dem Osten prallten auf Rückkehrer-Ströme, die von Westen her kamen.

Der Pfarrer Franz Scholz von der Görlitzer Bonifatius-Gemeinde, die am östlichen Ufer der Stadt siedelt, notiert am 26. Mai: "Draußen immer stärkere Elendshaufen. Sie bitten um Suppe, Brot." Die kommen nicht aus dem Osten, "die wollen in ihre Heimat in Richtung Osten zurück."

Die wenigsten, die nun über die Neiße nach Schlesien drängen, machen sich klar, was sie "daheim" erwartet: verbrannte Erde, zerstörte Häuser. Denn das Land war beim Rückzug der deutschen Wehrmacht verwüstet worden, dann waren die russischen Panzer darüber gerollt, und schließlich hatten marodierende Rotarmisten geplündert und gebrandschatzt, was noch übrig geblieben war.

Und trotzdem: Über eine Million quälen sich über die kaputten Straßen nach Hause.

Noch ist die Heimat für zwei Mark zu haben: So viel kosten die "Passierscheine", die die Polen an alle Rückkehrer-Flüchtlinge mit einem Zielort östlich der Neiße ausstellen. Die Zettel gibt es freilich nur langsam und zögernd, und das ist Absicht. Sollen so viele Deutsche wirklich nach Breslau, Gleiwitz und Stettin zurückkehren?

Während die zerlumpten hungrigen Gestalten von Pfarrer Scholt und anderen wenigen Hilfskräften mit Suppe versorgt werden und der Stau der Menschen, die sich hier von Osten nach Westen und umgekehrt entgegenlaufen, immer größer wird, herrscht höheren Orts erst mal eine andere Art von Chaos. Wie die Geschichte mit Deutschlands Ostgebieten eigentlich weitergehen soll, scheint niemandem klar zu sein.

Denn die Grenzen nach dem Sieg waren von den Alliierten bis dahin nur in groben Zügen vorbesprochen. Schon am 28. November 1943 hatten sich Winston Churchill, Josef Stalin und Franklin D. Roosevelt in der amerikanischen Botschaft in Teheran zusammengesetzt.

Es war zwei Tage vor Churchills 69. Geburtstag. Der Gastgeber, US-Präsident Roosevelt, fühlte sich unpässlich und ging früh zu Bett. Der Briten-Premier Churchill und der Kreml-Herr Stalin machten es sich auf dem Sofa bequem, um über die Nachkriegsordnung zu plaudern.

Stalin war daran interessiert, den Ostteil Polens - in dem überwiegend Ukrainer und Weißrussen lebten - zu behalten, den Hitler ihm bereits 1939 zugestanden hatte: Galizien mit der Metropole Lemberg und den Ölfeldern sowie Wilna und die weißrussische Ebene.

Churchill sagte, er habe nichts dagegen, wenn Polen nach Westen wandere "wie Soldaten, die zwei Schritte nach links aufschließen". Die Verluste des geschundenen Landes im Osten sollten im Westen durch den Zugewinn deutscher Gebiete kompensiert werden. Ein ganzer Staat, versetzt um einige hundert Kilometer.

Der Sowjetdiktator, ein ausgefuchster Schauspieler, gab sich skrupulös - da zog Churchill eine Streichholzschachtel heraus und entnahm ihr drei Hölzchen, die Weltgeschichte machten: Eines stand für Russland, das zweite für Polen, das dritte für Deutschland. Das russische - rechts - schob der Brite nach links. Da mussten die beiden anderen auch nach links rutschen. "Das gefiel Stalin", notierte Churchill.

Natürlich nahm sich der gerissene Kreml-Chef später ein größeres Stück vom Vorkriegs-Polen, als es dem Bündnispartner lieb war. Die Zeche - das war die Logik des Spiels mit den Hölzchen - zahlten am Ende die Deutschen. Ihre Höhe stand allerdings auch im Frühsommer 1945 noch nicht fest.

Görlitz, 28. Mai 1945. Der Pfarrer Scholz notiert in seinem Tagebuch, das er später als Zeitdokument veröffentlicht: "Die nach Osten wogenden Ströme der heimkehrenden Flüchtlinge werden ab heute von schwer bewaffneten Kommandos an der Schenkendorffstraße aufgehalten. Zu Hunderten und Tausenden stehen sie da mit ihren Gespannen."

Eine Woche zuvor hatte Wladyslaw Gomulka, der mächtige Generalsekretär der polnischen KP, beim Plenum des Zentralkomitees Krisenstimmung verbreitet: Die "Rückkehr der Deutschen" bringe die Vereinbarungen der Alliierten in Gefahr.

Am 1. Juni werden fünf Divisionen der neuen polnischen Armee an die Oder und an die Görlitzer Neiße beordert. Der Eiserne Vorhang geht herunter. Rückkehr für Deutsche nach Schlesien oder Pommern verboten. Wer es trotzdem wagt, landet in den Folterkellern im Osten von Görlitz.

Fast fünf Millionen Deutsche leben noch jenseits des Eisernen Vorhangs unter polnischer Verwaltung. Nun droht auch ihnen der Austrieb. Denn was konnten die polnischen Kommunisten ihren Landsleuten in diesem völlig zerstörten und im Osten vom Genossen Stalin kaltschnäuzig amputierten Land schon bieten? Häuser und Boden der Deutschen - und die Vision eines homogenen Nationalstaats, den fast alle Polen wollten. Gomulka: "Wir müssen die Deutschen hinauswerfen, da alle Länder auf nationalen, nicht multinationalen Grundlagen errichtet sind."

Eigentlich sollte erst im Juli, auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte, entschieden werden, wie es weitergeht. Noch war ja ungeklärt, wo genau die neue Grenze zwischen Polen und Deutschland verlaufen würde. Doch die polnische Regierung hatte das Gesetz des Handelns längst in die Hand genommen - von Stalin dazu ermuntert.

Schon rollten aus den einstigen Ostprovinzen Polens, die an die Sowjetunion fielen, in offenen Viehwaggons eineinhalb Millionen Landsleute heran, darunter 150 000 Juden, die gerade dem Holocaust entronnen waren. Für ihre Häuser und Höfe hatte man ihnen Kompensation versprochen; sie sollten nun in Breslau oder Pommern siedeln. Doch da waren immer noch die Deutschen.

Edward Ochab, der Innenminister in Warschau, entschied, die übrig gebliebenen, unter polnischer Aufsicht befindlichen Deutschen in drei Gruppen zu teilen: Die erste, so sein Beschluss, möge man zu Fuß "in kleinen Herden über Oder und Neiße" hinaustreiben. Die zweite habe sich aus Fachleuten und Experten zusammenzusetzen, die man vorerst noch brauche. Als dritte Gruppe schließlich qualifizierte der Politiker Menschen in Städten und grenzfernen Gebieten, die man nicht so schnell aus dem Lande bekomme. Die sollten erst einmal in Lagern untergebracht werden.

Die polnischen Armeeeinheiten im Westen - zuständig für die Gruppe eins - bekommen nun aus Warschau den Auftrag, "mit den Deutschen so umzugehen, wie die mit uns umgegangen sind". Der Befehl an die polnische West-Truppe: Behandelt die so, "dass sie von selbst fliehen".

Den meisten muss man das nicht zweimal sagen.

Vom 20. Juni an läuft die erste große Ausweisungswelle nun auch in Niederschlesien, das nach Meinung der Westalliierten gar nicht an Warschau fallen sollte. Aber wer - außer Stalin - kann die Polen noch stoppen? "Wie ein Blitz aus heiterem Himmel", so beschreibt Georg Gottwald, katholischer Dekan im schlesischen Grünberg, sei der Befehl gekommen, binnen sechs Stunden müsse der gesamte Stadt- und Landkreis "deutschenfrei" sein.

Der Ablauf war immer derselbe: Militärtrupps umstellten die Häuser, und deren Bewohner wurden mit Schüssen oder unter Einsatz von Gewehrkolben und Peitschen aus dem Bett geprügelt, ausgeplündert und unverzüglich in Marsch gesetzt.

Mehrere Tage lang wankten so ungezählte Schlesier zu Fuß bis zur 250 Kilometer entfernten Neiße. Im schlesischen Herrnstadt wurde ein ganzes Altersheim auf solche Weise vertrieben. Die gebrechlichen Greise kippten unterwegs in Scharen tot um.

Den Pommern ging es ebenso schlecht. Am 1. Juli, nachmittags um 17.30 Uhr, erschien der neue polnische Bürgermeister einer Gemeinde mit Namen Gottschimmerbruch, im Schlepptau zwei Polizisten. "In 30 Minuten raus", wurde die Bäuerin Anna Kientopf angeherrscht. Zugleich brachte das Räumkommando, wie die Frau später zu Protokoll gab, "eine Menge Ukrainer-Jungs" mit auf den Hof. Vertriebene ersetzten Vertriebene.

Als sich der eilends zusammengestellte Treck, zu dem auch Anna Kientopf gehört, in Richtung Westen in Gang setzt - ein Elendsmarsch der Entwürdigten -, schlägt ein aufgeputztes polnisches Mädchen mit Topfdeckeln den Takt dazu.

Und dann die Nächte im Wald: Wenn die Sonne aufging und der Boden sich erwärmte, erfüllte ein "Pesthauch" - Leichen von Menschen und verwesenden Tieren - die Luft. Ungeheure Schwärme blauer Fliegen saßen auf den Toten.

Görlitz, 21. Juni: Die Vertreibung hat auch Pfarrer Scholz erreicht. Er muss seine Wohnung räumen und gesellt sich nun zu denen, die mit ihrem bisschen Habe in Parkanlagen und auf Wiesen umherirren und nicht weiter wissen. Die Baumstämme sind weiß vor Zetteln, auf denen Kinder ihre Mütter suchen und Mütter ihre Kinder.

An den folgenden Tagen gibt es am westlichen Ufer der Neiße bald keinen Fleck zum Treten mehr. Tausende und Abertausende werden über die Brücke nach Görlitz-West gepresst. Dort wächst langsam das Chaos zur Katastrophe: Es gibt ja keine funktionierende Stadtverwaltung, kein Wasser, keine Nahrung mehr.

Schließlich ein Ultimatum von oben: Binnen 48 Stunden müssen die Habenichtse am Westufer das Stadtgebiet verlassen haben. Der diesseitig liegende Stadtteil droht nun auch noch von den Polen vereinnahmt zu werden.

Mitten im großen Tohuwabohu geschieht zusätzlich Verwirrendes. Am 29. Juni meldet der Stabschef des 27. polnischen Infanterieregiments an den Stabschef der 7. Infanteriedivision, dass die Aussiedlung "wegen des entschiedenen Widerspruchs der Führung der Roten Armee" eingestellt worden sei. Es hätten sich Fälle ergeben, "in denen unsere Soldaten von der Führung der Roten Armee unter Beteiligung bewaffneter Deutscher entwaffnet, verhaftet und geschlagen wurden".

Nachforschungen bestätigten, dass tatsächlich ein polnisches Armee-Kommando bei seinem Versuch, Deutsche aus Hirschberg zu vertreiben, von Russen umringt, gefangen genommen und zwei Tage eingesperrt worden war.

Diese erst kürzlich wieder aufgefundene Meldung - "Nummer 24" - untermauert, was Historiker seit langem vermuteten: Die Polen hatten ihre Aktionen nicht einmal mit den Russen hinreichend besprochen.

Und der große Bruder reagierte empört. Weitere Hungerleider aus den polnisch besetzten Gebieten wollte er in seiner Zone - der späteren DDR - nicht haben. Zumindest noch nicht.

Am 15. Juli, einem strahlenden Sommertag, geschieht in Görlitz ein kleines Wunder: Der Westen der Stadt wird nun doch nicht von den Polen beansprucht.

Und noch ein Wunder: Der Strom der Vertriebenen aus dem Osten versiegt. Aber die Hoffnung, dass es mit dem Grauen ein Ende haben könnte, erfüllt sich nicht. Irgendein Mächtiger hat da nur wieder mal mit Streichhölzern gespielt.

THOMAS DARNSTÄDT, KLAUS WIEGREFE