"Eine teuflische Lösung"

SPIEGEL-Serie über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten

QUELLE: Der Spiegel Vertreibung (III): "Eine teuflische Lösung" - DER SPIEGEL - SPIEGEL ONLINE
 

 

Nach dem barbarischen Krieg und den "wilden" Vertreibungen wollten die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz Frieden stiften. Doch sie verursachten eine weitere humanitäre Katastrophe. Nochmals über sechs Millionen Deutsche wurden gezwungen, Heimat und Hof zu verlassen.
 

Am Bahnübergang beim kleinen pommerschen Städtchen Belgard ließ sich der Fortgang der Geschichte ganz gut überblicken: Flüchtlinge, Eroberer, Vertriebene - alle mussten hier durch.

Denn die Eisenbahnstrecke war damals, 1945, die wichtigste Verbindung zwischen Ost und West, zwischen Danzig und Stettin oder - etwas mehr von oben herab betrachtet - zwischen Moskau und Berlin.

Und es ging immer in eine Richtung. Erst hatte der Schrankenwärter die langen Güterzüge mit den halberfrorenen Menschen abzufertigen, die vor der anrückenden Roten Armee nach Westen rollten. Zwischendrin kamen die Maler, die das Bahnhofsschild - Belgard heißt nun auf Polnisch Bialogard - überpinselten. Dann passierten endlose Güterzüge mit vertriebenen Deutschen die Ortschaft.

Im ersten Sommer nach dem Krieg kam immer um 15 Uhr der in der Bevölkerung so genannte "Plünderzug" nach Stettin vorbei. Vor der Schranke verlangsamte der Lokführer auf Schritt-Tempo, und ein Trupp junger Männer - Russen, später Polen - sprang auf die Wagen. Die organisierten Banden raubten die Deutschen, die sich auf dem Weg aus der Heimat ins Ungewisse befanden, bis auf die Unterwäsche aus.

 

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GroßbildansichtFlucht und Vertreibung von Deutschen und Polen

Aus dem Zug flogen die Fetzen. Unbrauchbares Zeug warfen die Plünderer auf die Gleise - und die halbnackten Menschen manchmal hinterher. "Ein Bild des Grauens", notierte der zunächst für die Russen arbeitende und danach von den Polen zwangsverpflichtete Schrankenwärter, der in späteren Berichten nur mit den Initialen O. S. auftaucht.

Akribisch versuchte der brave Eisenbahner, wenigstens notdürftig Ordnung in diese erbarmungslose Welt um sich herum zu bringen. Wenn der Zug die Station verlassen hatte, jätete er am Bahndamm die herumliegenden Dokumente, Briefe oder Personalpapiere und zuweilen auch Sparbücher, sortierte sie und verwahrte sie in seinem Keller.

O. S. denkt dabei an spätere Zeiten, die er sich in diesen Wochen nicht vorzustellen vermag. Werden die Polen wirklich hier bleiben, oder wird man das Bahnhofsschild abermals umpinseln? Werden die Menschen in den Güterwagen wiederkommen - oder müssen schließlich auch die restlichen Deutschen Hinterpommern preisgeben, in dem sich Russen und Polen unentwegt darüber streiten, wer das Sagen hat?

Im Potsdamer Schloss Cecilienhof haben sich seit dem 17. Juli 1945 die drei mächtigsten Männer der Welt zusammengesetzt. Winston Churchill, der Briten-Premier, Kreml-Chef Josef Stalin und Amerikas Präsident Harry Truman wollen dieses vom Krieg verwüstete Europa, in dessen Mitte die Menschen hin und her irren, neu vermessen.

Es geht dabei um über sieben Millionen Deutsche, die vor der Roten Armee geflohen sind und von denen gut eine Million alles daransetzt, in ihre Heimat zurückzukehren, um über 400 000 Sudetendeutsche, die zu Fuß oder in Zügen planlos von den Tschechen vertrieben worden sind, und um 400 000 Deutsche aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, die ebenso wild im Sommer 1945 von den Polen - zumeist via Belgard - in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands gepresst werden.

Hinzu kommen dann noch 1,5 Millionen Polen, abtransportiert aus Galizien oder der West-Ukraine, die vor dem Krieg zu Polen gehörten und nun an die Sowjetunion fallen.

Die meisten der Entwurzelten haben nicht einmal ein dauerhaftes Dach über dem Kopf. Hunger, Typhus und Ruhr grassieren.

Und jene Millionen Deutsche, die in ihrer Heimat jenseits von Oder und Neiße und im Sudetenland ausharren, leiden unter dem Terror und dem Hass von Russen, Polen und Tschechen.

In Erwartung einer weisen Entscheidung hatten zu Beginn der Potsdamer Konferenz Warschau und Prag immerhin ihre wilden Vertreibungen vorübergehend eingestellt. Die Westmächte sollten den polnischen Gebietswünschen gegenüber gnädig gestimmt werden.

 

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GroßbildansichtOperation "Schwalbe"

Doch das Treffen der großen drei war dann leider die Ursache dafür, dass der Versuch, nach einem barbarischen Krieg die Probleme zu lösen, in eine neue humanitäre Katastrophe führte. Denn statt die mörderische Völkerwanderung sofort zu stoppen, beschlossen die Sieger, das Chaos auf die Spitze zu treiben. Eine totale ethnische Säuberung in Osteuropa sollte ein für alle Mal Frieden zwischen den schwierigen Deutschen und ihren geplagten Nachbarn stiften.

Nochmals über sechs Millionen Deutsche, so das Resultat der Männerrunde im Schloss, werden nun gezwungen, Heimat und Hof zu verlassen.

Nur wenige Tage nachdem am 2. August der Beschluss von Potsdam den Menschen über die Radios - falls sie noch welche hatten - bekannt gegeben worden war, ereilte das Schicksal auch den Wärter O. S. an der Bahnschranke bei Belgard. Er wurde in einen der langen Güterzüge verfrachtet und selbstverständlich ausgeplündert.

Um ein neues historisches Desaster zu vermeiden, hatten westliche Politiker jahrelang diskutiert und in Mengen Vermerke geschrieben. Die britische Regierung bildete schon 1943 eine "Transfer-Kommission", in der dann hochrangige Diplomaten und Juristen, Experten des Äußeren und des Inneren die Frage hin- und herwendeten, wie in Europa nach dem sicher erscheinenden Untergang des Dritten Reiches Stabilität hergestellt werden könne.

Das Problem war seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bekannt. Wenn die Siegermächte die Staatsgebiete neu verteilen, ist das nicht nur eine Sache von Verträgen, brauchbaren Grenzflüssen und ordentlichen Landkarten. Der entscheidende Faktor sind die Menschen, deren Interessen man seinerzeit allerdings sträflich zuwiderhandelte.

Denn nach dem Ersten Weltkrieg waren die Grenzen in Europa quer durch die Volksstämme gezogen worden. Überall entstanden neue Staaten, überall gab es neue Mehrheiten und Minderheiten.

Über vier Millionen Deutsche lebten auf einmal in Polen und in der -SR und mochten sich damit nicht abfinden. Etwa im nun polnischen Posen oder Westpreußen verloren deutsche Landwirte durch eine Bodenreform ihr Land; Schulen wurden geschlossen, und wer seine deutsche Staatsangehörigkeit nicht aufgeben wollte, wurde kurzerhand aus dem Land gedrängt.

Auch in Böhmen und Mähren, wo 3,5 Millionen Sudetendeutsche noch den größten Minderheitenschutz genossen, wurden alle Beamten entlassen, die einen Sprachtest nicht bestanden.

Die Berliner Regierung schürte schon in den Jahren der Weimarer Republik und erst recht unter Adolf Hitler die Unzufriedenheit ihrer Landsleute im Osten. Die bildeten schließlich einen Brückenkopf für Gebietsansprüche - und waren damit Quelle ständiger Reibungen zwischen den Großmächten.

Als vergebens erwiesen sich alle Versuche von Völkerrechtlern und Politikern, ethnische Probleme durch so genannte Nationalitätenstatute zu entschärfen - ein Lösungsmodell, das die Londoner Transfer-Kommission dann endgültig verwarf. Eine Aussiedlung der Deutschen, befand auch Churchill, sei das "zufriedenstellendste und dauerhafteste Verfahren". Es werde danach "nicht mehr jenes Völkergemisch geben, das nicht enden wollende Schwierigkeiten mit sich bringt".

Die Idee, durch ethnische Säuberungen Frieden zu stiften, hatte erstmals 1915 der Schweizer Arzt und Völkerkundler George Montandon, ein erklärter Antisemit, proklamiert: "Durch die massive Verpflanzung von Nichtangehörigen der Nation in Gebiete jenseits der Grenze" könne man die Nationalstaaten künftig "reinigen".

Acht Jahre später wurde aus der Theorie bitterer Ernst. In Lausanne einigten sich Türken und Griechen, ihre wechselseitigen Minderheiten nicht mehr zu drangsalieren, sondern sie stattdessen auszutauschen - es ging um zwei Millionen Menschen.

Milizeinheiten umstellten die Dörfer, und Uniformierte trieben die Bürger mit vorgehaltener Waffe zusammen.

Lord Curzon, der damalige britische Außenminister, hatte den Deal vermittelt, aber wohl war ihm nicht dabei: "Eine teuflische Lösung" sei das, schrieb er, "für welche die Welt in den nächsten hundert Jahren einen hohen Preis entrichten wird".

Die Vereinbarung von Lausanne wurde für Churchill trotzdem zum Vorbild. Die Deutschen sollten eine kurze Frist bekommen, "um sich das Nötigste zu nehmen und zu gehen", argumentierte der Premier deshalb schon lange vor der Potsdamer Konferenz, "das hat sich vor Jahren in der Türkei bewährt und wird sich auch jetzt wieder bewähren".

 

Seinen Vertreibungsexperten war zudem nicht entgangen, dass ausgerechnet Adolf Hitler 1939 seinerseits damit begonnen hatte, Deutsche aus Osteuropa auszusiedeln. Der "Führer" brauchte neue Menschen für sein Rasse-Imperium. Volksdeutsche, die Jahrhunderte vorher nach Russland oder auf den Balkan ausgewandert waren, sollten jene polnischen Gebiete besiedeln, die Hitler seinem "Tausendjährigen Reich" angegliedert hatte.

Über eine Million Menschen aus dem Baltikum und Bessarabien, aus Galizien und Siebenbürgen kamen so bis Kriegsende "heim ins Reich". 1,2 Millionen Polen wurden dafür vertrieben oder kurzerhand ermordet.

Es war der Horror vor der großen Zahl, der die Briten dennoch zu hinhaltendem Widerstand gegen Stalins Forderung veranlasste, den Polen nicht nur Westpreußen und Teile Ostpreußens, sondern auch Hinterpommern und Schlesien bis zur westlichen Neiße zu überlassen: Das bedeutete ja noch einmal einige Millionen Entwurzelte mehr. Und kettete nicht die absehbare Feindschaft der vertriebenen Deutschen Polen auf ewig an die Sowjetunion?

Doch Kreml-Herrscher Stalin ließ nichts unversucht, London von der Notwendigkeit einer Total-Bereinigung bis zur Oder-Neiße-Linie zu überzeugen, und setzte sich letztlich durch.

Die Potsdamer Konferenz entschied am 2. August 1945 über das Schicksal von Millionen Menschen mit ein paar beschwichtigenden Formeln: Die Regierungen von Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn sollten den Transfer der Deutschen in "ordnungsgemäßer und humaner Weise" durchführen - und bis zu klärenden Detailgesprächen des Alliierten Kontrollrates die Aktionen erst einmal aussetzen.

Aber der Fortgang der Geschichte in Pommern, wo O. S. an der Bahnstrecke nach Westen nun keinen Dienst mehr tat, beschleunigte sich stattdessen - die Polen mochten mit der Vertreibung nicht warten. Sie fürchteten, die Alliierten könnten aus humanitären Gründen die Vertreibung hinauszögern. Milizeinheiten umstellten die Dörfer, und Uniformierte trieben die Bürger mit vorgehaltener Waffe auf offener Straße zusammen. Frauen, die gerade beim Einkaufen waren, trugen noch ihre Kittelschürze, Männer ihre Hausschuhe. Mit Peitschenhieben und Kolbenstößen wurden die Menschen zu den jeweiligen Bahnhöfen gescheucht.

Tage und Nächte standen danach Greise wie kleine Kinder in der drangvollen Enge in Viehwaggons ohne Essen und Trinken auf irgendwelchen toten Gleisen. Niemand wusste, wohin die Transporte eigentlich gehen sollten. Sicher war nur die Richtung: nach Westen.

Im Bahnhof Stettin-Scheune, wo die Züge mit oft Tausenden Entwurzelten eintrafen, fielen die nach langen Irrfahrten Verhungerten oder Erfrorenen einfach auf die Bahnsteige.

Skrupellose Milizionäre nutzten das Chaos in der pommerschen Provinzmetropole, die Davongekommenen um ihre allerletzte Habe zu bringen - und die Schuld anschließend den Rotarmisten in die Schuhe zu schieben. Umgekehrt machten es die Russen allerdings nicht anders.

Im Spätsommer gab es eine regelrechte Schlacht um den Bahnhof. Der polnische Stadtpräsident meldete in Scharen auftretende "Banditen". Polen, Russen und Deutsche - teils Soldaten, teils Kriminelle - beschossen sich gegenseitig.

Wer in Scheune ankam, war nicht Vertriebener, sondern "Flüchtling". Die feinsinnige Sprachregelung in Polen fand ihre Rechtfertigung in einem Papier, das die Betroffenen bei der Abfahrt unterschreiben mussten: 1. Wir fahren freiwillig; 2. Wir stellen keinerlei Ansprüche an den polnischen Staat; 3. Wir versprechen, niemals wiederzukommen.

Die "freiwillige Ausreise" war eine Erfindung der provisorischen Warschauer Regierung unter Boleslaw Bierut, der mit dieser Masche das Moratorium von Potsdam umgehen wollte, das ja solche Ausweisungen bis auf weiteres strikt untersagt hatte.

Doch die Polen standen allerorten unter Druck: Die neugewonnenen Gebiete im Westen mussten an Umsiedler übergeben werden, die schon massenhaft aus dem an Stalin abgetretenen Ostpolen eintrafen. Die sollten nun die von den Deutschen geräumten Häuser und Höfe bewirtschaften.

Ein chaotisches Programm: Im niederschlesischen Rosenbach beobachtete ein Pfarrer, wie Industriearbeiter aus dem ehemaligen Ostpolen als Bauern im neuen Westpolen rasch die Lust verloren und sich ersatzweise auf die Jagd nach Schätzen machten. Statt Felder zu bestellen, durchpflügten sie Wiesen und Vorgärten auf der Suche nach mutmaßlich von den Deutschen vergrabenen Wertsachen.

Oft zogen polnische Umsiedler in Häuser ein, in dem noch die deutschen Besitzer wohnten. Diese mussten dann bis zur Abfahrt im Keller wohnen.

Weil der Lebensraum für die Polen aus dem Osten so dringend gebraucht wurde, mussten viele Deutsche, für die nicht sofort ein Viehwagen aufzutreiben war, zunächst einmal in Lagern untergebracht werden. Da saßen sie dann monatelang zusammen mit Strafgefangenen, NS-Funktionären, die auf ihre Aburteilung warteten, oder Schindern von der SS, die nun ihrerseits geschunden wurden, aber auch Polen, die beim Genossen Stalin und seinen Warschauer Vollstreckern in Ungnade gefallen waren.

In solchen Lagern ließen die Wächter und Kommandanten ihrem Hass auf die Deutschen freien Lauf. Nach Schätzungen von Experten des Koblenzer Bundesarchivs kamen während dieser Phase in Polen 60 000 bis 100 000 Insassen ums Leben.

 

Zwischen sechs und zehn Patienten in jedem Wagen starben unterwegs. Die Leichen wurden aus dem Zug geworfen.

 

 

Der ehemalige Lagerarzt und spätere Braunschweiger SPD-Stadtrat Heinz Esser schrieb zum Beispiel über die "Hölle von Lamsdorf": "Sie wurden geschlagen und getötet, nur weil sie Deutsche waren."

Die Erinnerung daran quält viele Überlebende bis heute, etwa wie es klingt, wenn Menschen mit einem Gewehrkolben geschlagen werden. "Es gab dann ein ganz komisches Geräusch, das sich anhörte wie ein Knall", erinnert sich Helmut Gerlitz, der als sechsjähriger mit seiner Mutter und zwei Schwestern in das Lager Lamsdorf kam.

Im fernen London ahnten die Briten um diese Zeit zum erstenmal, was sie mit ihren "Transfer"-Vorschlägen angerichtet hatten. Es sei "nicht auszuschließen", erklärte Churchill in einer Rede vor dem Unterhaus, dass sich "hinter dem Eisernen Vorhang" eine "Tragödie von ungeheurem Ausmaß" abspiele.

Eisern war in diesem Elends-Herbst 1945 indessen vor allem der Wille bei den Verantwortlichen, die Katastrophe zu verdrängen. Dabei wurden die Alarmrufe von Beobachtern im zerschlagenen Deutschland immer lauter.

Am 12. Oktober meldete etwa Robert Murphy, der politische Berater der US-Militärregierung, aus Berlin: "Allein auf dem Lehrter Bahnhof ... haben unsere Sanitätsdienststellen täglich im Durchschnitt zehn Menschen gezählt, die an Erschöpfung, Unterernährung und Krankheit gestorben sind." Die Überlebenden kämen zu Hunderten in Krankenhäuser: "Sieht man das Elend und die Verzweiflung dieser Unglücklichen, spürt man den Gestank des Schmutzes, der sie umgibt, stellt sich sofort die Erinnerung an Dachau und Buchenwald ein. Hier ist Strafe im Übermaß - aber nicht für die Parteibonzen, sondern für Frauen und Kinder, die Armen, die Kranken."

Im November schreibt der US-Korrespondent F. A. Voigt in der "Nineteenth Century and After" über einen Transport, der in Berlin aus Danzig mit Kranken und Waisen ankommt: "Sie waren in fünf Viehwagen zusammengepfercht, auf dem nackten Boden, ohne Stroh. Es gab weder Ärzte noch Schwestern oder Medikamente. Zwischen sechs und zehn Patienten in jedem Wagen starben unterwegs. Die Leichen wurden einfach aus dem Zug geworfen." Derselbe Artikel enthüllt auch, dass es den Deutschen, die aus der -SR hinausgeworfen wurden, nicht besser erging: "Ungefähr um die gleiche Zeit kam ein Transport mit Männern, Frauen und Kindern aus Troppau. Sie waren achtzehn Tage lang in offenen Viehwagen unterwegs gewesen. Zweitausendvierhundert Menschen hatten die Fahrt angetreten, eintausenddreihundertfünfzig erreichten Berlin. Es sind also mehr als tausend unterwegs gestorben."

Und nicht einmal der Philosoph Bertrand Russel konnte sich Gehör verschaffen, als er im "New Leader" am 8. Dezember 1945 berichtete: "Viele erreichen Berlin als Tote. Kinder, die unterwegs sterben, werden aus dem Fenster geworfen. Nach der Aussage eines britischen Offiziers, der sich jetzt in Berlin aufhält, sterben ganze Bevölkerungen."

"Bestürzt" hatte immerhin US-Außenminister James Byrnes an seinen Botschafter Arthur Lane in Warschau gekabelt, er möge den polnischen Machthabern die Missbilligung der US-Regierung überbringen. Lane telegrafierte zurück, Protest sei zurzeit nicht opportun. Die Deutschen würden offenbar total übertreiben, "wie es ihrer Art entspricht, nach einem verlorenen Krieg zu jammern".

 

Lebensmittel gibt es für Deutsche nicht. Erst kochen die Eingekerkerten Hunde und Katzen, dann Mäuse.

 

Warum taten die Westmächte nichts gegen die flagrante Verletzung des Potsdamer Abkommens? Sie wollten wohl nicht, vermuten Historiker. Von vornherein betrachteten die Großen drei von Potsdam die Drecksarbeit, den eigentlichen "Transfer", als innere Angelegenheit der Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn. Sie mischten sich erst wieder ein, als in ihren alliierten Besatzungszonen eine Hungersnot drohte.

Ungezählte so genannte Displaced Persons aus Osteuropa - ehemalige Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, Überlebende des Holocaust oder vor der Roten Armee geflohene Kollaborateure der Nazis - irrten durch das zerstörte Deutschland.

Dazu kamen nun ständig neue Elendszüge aus dem Osten. Da beschlossen Briten und Amerikaner einen gigantischen Bevölkerungsaustausch: Die Displaced Persons sollten unverzüglich in ihre Heimat zurückkehren - und Platz machen für die noch zu Vertreibenden.

Die einstigen sowjetischen Kriegsgefangenen Hitlers wurden - auch gegen ihren Willen - der Roten Armee überstellt, die Polen durften sich immerhin aussuchen, ob sie zurückwollten. Am 13. Oktober begann die Operation "Adler" - so hieß die Rückführung von über 100 000 Polen in ihre Heimat.

Parallel schacherten die Alliierten-Vertreter im Kontrollrat um die Zahl der zu transferierenden Deutschen. Auf Vorschlag der Sowjets wurde sie schließlich mit 6,7 Millionen veranschlagt.

Diese "Zuzügler" sollten - zusätzlich zu den Millionen Deutschen, die Restdeutschland bereits erreicht hatten - in den folgenden Monaten auf die einzelnen Besatzungszonen verteilt werden: 1,5 Millionen entfielen auf die Briten, 2,75 Millionen auf die Sowjets, 2,25 Millionen auf die Amerikaner. 150 000 hatten die Franzosen in ihrem Einflussbereich anzusiedeln.

Die Volksverschiebung sollte im Juli 1946 abgeschlossen sein - 6,7 Millionen in sieben Monaten. Und außerdem brach nun noch ein gnadenloser Winter über die heimatlosen Deutschen herein.

Paul Fieweger, ein Landwirt aus einem Dorf in der Nähe des schlesischen Städtchens Neiße, überlebte die Strapazen nur knapp. Ende Januar 1946 stand er zusammen mit 80 Männern und Frauen tagelang in einem Waggon in der eisigen Kälte. Irgendwo auf freier Strecke wurde der Wagen einfach abgehängt.

Stalin, dem jeder in Potsdam ohne Zögern umfassende Erfahrung im Verschieben von Völkern zubilligte, hatte seine Gesprächspartner in Cecilienhof ja gewarnt: Dass man die Deutschen "direkt nimmt" und sie rauswirft, "so einfach ist die Sache nicht". Wirkungsvoller sei, man bringe sie "in eine Lage, bei der es für sie besser ist, diese Gebiete zu verlassen".

So haben es Stalins Genossen in jenem Winter dann auch gemacht. In vielen Dörfern Schlesiens meldeten sich die Drangsalierten freiwillig zum Abtransport, und die in den Lagern flehten um einen Platz im Güterwagen. Tausende liefen einfach zu Fuß durch den Schnee zur Grenze. Und sie atmeten erleichtert auf, als sie endlich die Brücke über die Neiße bei Görlitz erreicht hatten.

"Nur weg aus dem Machtbereich des Terrors. Ganz gleich, wohin, nur weg von hier nach Westen", notierte der Pfarrer Franz Scholz von der Görlitzer Bonifatius-Gemeinde in seinem Tagebuch.

Doch dann, Ende Februar 1946, tauchten im 30 Kilometer entfernten Kohlfurt unvermittelt britische Offiziere auf. Sie bestellten die ankommenden Deutschen zu sich und versprachen, von nun an werde alles reibungslos laufen - und der Pfarrer dankte dem Herrgott.

Die Briten, denen die Versorgung der ankommenden Elendsgestalten in ihrer Zone zu teuer wurde, hatten am 14. Februar mit der polnischen Regierung ein Abkommen geschlossen, um das Allerschlimmste ab sofort zu verhindern. Ohne Lebensmittel für zwei Tage sollte niemand mehr auf die Reise geschickt werden. Kranken, Hochschwangeren und Frauen im Kindbett verkündete man feierlich, sie zunächst einmal zu verschonen.

Die nunmehr geordnet erscheinende Vertreibung aus Polen in die britische Zone bekam den Namen Operation "Schwalbe". Präzise wurde mit ihr festgelegt, täglich 8000 Menschen mit Schiffen von Stettin nach Lübeck, in polnischen und sowjetischen Zügen von Stettin nach Bad Segeberg oder von Kohlfurt nach Alversdorf bei Helmstedt und Friedland zu verfrachten.

Die Sudetendeutschen sollten sogar Essen für drei Tage bekommen und tausend Mark Reisegeld mitnehmen dürfen. Denn ähnlich wie die Briten mit den Polen, so vereinbarten im Januar 1946 die Amerikaner mit den Tschechen Mindestbedingungen für die Einreise in den Westen. Die Waggons, entschied man großzügig, müssten bei schlechtem Wetter beheizt sein. Die ersten dieser Vertragstransporte trafen am 25. Januar im bayerischen Furth im Wald ein.

An der Grenze blühten plötzlich die Bäume - doch das waren keine Blüten, sondern die gelben, weißen und roten Armbinden, die alle Deutschen im Sudetenland tragen mussten und die sie nun, nachdem die Wagen die Demarkationslinie zu den Amerikanern überrollt hatten, erleichtert vom Arm streiften und ins Geäst hängten.

Aus Böhmen und Mähren, aus Pommern und Schlesien, aus Westpreußen und Danzig - von überall rollten die endlosen Menschenzüge, manche sogar mit Tannengrün geschmückt.

Die Deutschen im nördlichen Ostpreußen um Königsberg allerdings, wo ein Jahr zuvor die große Flucht begonnen hatte, blieben zurück.

Stalin hatte diesen Teil des traditionsreichen und reichen Bernsteinlandes an der Ostsee für sich behalten. Die dort Eingeschlossenen stürzte er in kaum beschreibbare Zustände. Die Deutschen, die hier im Winter 1944/45 von der Roten Armee überrannt wurden, vegetierten auch im Frieden wie in einem Gefängnis. Viele bekommen nicht einmal mit, dass der Krieg zu Ende ist.

In Königsberg, wo im Mai 1945 ein Amt zur "Nutzung der deutschen Bevölkerung" eingerichtet wurde, grassiert die Ruhr. Lebensmittel gibt es für Deutsche nicht. Erst kochen die Eingekerkerten Hunde und Katzen, dann Mäuse. Der Arzt Hans von Lehndorff, der in der Stadt Krankenhausdienst leistet, schreibt in sein Tagebuch:

"Die Menschen, die man zu uns bringt, befinden sich fast alle im gleichen Zustand. Oben sind sie zu Skeletten abgemagert, unten schwere Wassersäcke. Auf unförmig geschwollenen Beinen kommen sie zum Teil noch selbst gegangen. Jedes Mal fragen wir uns, ob es noch Sinn hat, die Beine zu amputieren, oder ob man die Leute lieber sterben lassen soll. Und meistens lassen wir es dann bei letzterem bewenden."

Wohin das Auge reicht - Tod und Verderben. Im Hungerwinter 1946/47 warnt die Miliz sogar vor dem Genuss der verkauften Klopse: "Fleisch nicht gut, Menschenfleisch". Als das Schlimmste vorüber ist, ist von den Deutschen, die die Russen in der völlig zerbombten Stadt antrafen, etwa die Hälfte gestorben.

Westlich dieser Todeszone rollten derweil die überfüllten Züge der Operation "Schwalbe" mit Deutschen aus Pommern oder Schlesien in die britische Zone.

Doch der friedliche Name trog. Die Aussiedlungsaktion missriet zum Desaster, und zwar nicht nur aus Bosheit, sondern weil sie das Gros der neuen Herrenschicht schlicht überforderte.

Denn eine halbwegs funktionierende Ordnung musste im neuen Westpolen ja erst aufgebaut werden. Kommunisten und Bürgerliche konkurrierten erbittert um die Regie. Ständig intervenierten Kommandeure der Roten Armee.

Um die Vertreibung auch nur leidlich zu organisieren, so der Historiker Philipp Ther, "hätte es einer eingespielten, etablierten Verwaltung bedurft". Aber das zuständige "Staatliche Repatriierungsamt" war ein Hort der Inkompetenz. Wochenlang mussten die eingesammelten Aussiedler nach wie vor auf ihre Transporte warten, weil es an Waggons und Schiffen fehlte.

Das Fazit der Operation "Schwalbe" lässt sich aus dem Bericht der "New York Times" vom Oktober 1946 ablesen: "Der Umfang dieser Umschichtung und die Verhältnisse, unter denen sie vor sich geht, haben in der Geschichte nichts Vergleichbares. Niemand, der diese Gräuel unmittelbar erlebt hat, kann daran zweifeln, dass es sich um ein Verbrechen gegen die Menschheit handelt, für das die Geschichte eine furchtbare Vergeltung üben wird."

Immerhin setzten die westlichen Militärbehörden im Winter 1946/47 einen vorübergehenden Stopp der Transporte aus Polen durch - sonst hätte es ein weiteres mal Tausende Erfrorener gegeben.

Endlich, am 11. Oktober 1947, rund zwei Jahre nach dem Treffen von Potsdam, vollzieht sich der letzte Akt der furchtbaren Geschichte von Flucht und Vertreibung.

Stalin unterzeichnet den Befehl zur Deportation der Deutschen - der übrig gebliebenen - aus dem russisch verwalteten Ostpreußen. Der Plan: Binnen weniger Monate sollen sie davongejagt werden.

Als der erste Güterzug anruckt und in den Westen rollt, können die zusammengepferchten Menschen durch die Ritzen der klapprigen Wagen einen letzten schmalen Blick auf ihre Heimat werfen: Das Land entleert, die Felder verbrannt, die Gehöfte zerrüttet.

In Ostpreußen hatte alles begonnen, als 1944 die ersten Panzer der Roten Armee auftauchten. Das war der Auslöser für die Flucht und anschließende Vertreibung von über 14 Millionen Menschen - der größten erzwungenen Völkerwanderung in der europäischen Geschichte der Neuzeit.

Der Chronist Lehndorff, der es lange in Königsberg aushält und sich schließlich allein zu Fuß auf den Weg macht, sieht beim Abschied einen Storch über die öden Felder ziehen.

Dann holt ein Russe das Tier mit seiner Maschinenpistole vom Himmel.

THOMAS DARNSTÄDT, KLAUS WIEGREFE